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"reine Stimmung - temperierte Stimmung" (3)


Die dem Menschen angeborene Fähigkeit, ganz bestimmte Intervalle an ihrem "Klarheitsgrad" zu erkennen und von den übrigen eindeutig abzusondern, wird durch eine weitere, ebenso naturbedingte Eigenheit unseres Gehörssinnes ergänzt:

Angenommen, jemand nimmt eine Geige, die er etwa am Vortag zuletzt benützt hat, zur Hand und spielt auf den leeren Saiten das Intervall d-a. Da sich das Instrument in der Zwischenzeit sicherlich ein klein wenig verstimmt hat, wird die erklingende Quint kaum die Proportion 2:3 aufweisen. Dennoch wertet unser Gehör das Ergebnis nicht als das, was es physikalisch-objektiv wäre, sondern, sofern eine bestimmte Fehlergrenze nicht überschritten erscheint, noch immer als eine - wenn auch etwas verstimmte - reine Quint.

Mit derartigen Abweichungen verhält es sich ähnlich, wie wenn man freihändig ein rechtwinkliges Dreieck zeichnet. Man meint das ideelle Dreieck, und die anderen verstehen, was man meint, falls die Zeichnung von der aufgegebenen Figur nicht gar zu sehr abweicht. (Zitat aus dem Artikel "Der tonale Logos" von Walter Wiora, enthalten in der Zeitschrift "Die Musikforschung", Jahrgang 1951, Bärenreiter-Verlag, Kassel und Basel.)


Unser Gehörsinn besitzt von Natur aus einen bestimmten Grad an Elastizität, d.h., er hört sich Abweichungen innerhalb gewisser Grenzen zurecht; wie die Ausdrücke "Elastizität" bzw. "Zurechthören" verdeutlichen wollen, ist damit allerdings das Bedürfnis nach Korrektur des Fehlers verbunden. Unser Geiger wird diesem Drang sicher nachgeben und die Stimmung der Saiten so lange verändern, bis die Quint d-a möglichst exakt mit seiner Idealvorstellung von einer reinen Quint übereinstimmt.

Hier taucht freilich der Zweifel auf, ob das Endergebnis wirklich dem Verhältnis 2:3 entspricht. Man hat nämlich herausgefunden, daß Abweichungen, die geringer als ungefähr ein Zehntel eines Halbtonintervalls sind, selbst dem empfindlichen Ohr nichts ausmachen und nach keiner Korrektur mehr verlangen; in derartigen Situationen wird nicht mehr "zurechtgehört", sondern einfach "toleriert".

Eigenartigerweise läßt man solche geringfügige Abweichungen manchmal nicht bloß unwidersprochen gelten, sondern man verlangt geradezu darnach, daß bei musikalischen Tönen die einfachen Konsonanzen, um optimal zu erscheinen, eine Erweiterung gegenüber den theoretischen Frequenzen aufweisen müssen. Die geforderte "Verstimmung" ist nach Hornbostel bei Zusammenklängen geringfügig, kann aber bei Sukzessiv-Intervallen beträchtlich werden und nimmt mit der Weite des Intervalls und der Frequenz-Zahl zu. ... Seine Beobachtung wäre heute wohl dahingehend zu ergänzen, daß in extrem hohen Lagen die vom Ohr geforderten Erweiterungen wieder schrumpfen. Unabhängig von dieser Einschränkung aber bleibt die Beobachtung gültig, daß auch bei Simultan-Intervallen eine Abweichung von den theoretischen Werten gefordert wird. Dieses von sogenannten "Scharfhörigen" (Handschin) in Versuchsreihen gesicherte Resultat bedeutet also nicht, daß eine Abweichung von den theoretischen Werten toleriert, sondern gefordert wird; das bedeutet in der Tat einen schweren Einwand gegen die Konsonanztheorie, die sich auf die einfachsten Zahlenverhältnisse stützt. Die vom Ohr geforderten konsonanten Zusammenklänge sind ja viel komplizierter als alle Intervalle, die in einem mit Tonverhältnissen rechnenden System vorkommen. (Zitat aus dem Artikel "Die Verbindlichkeit der mathematischen Intervall-Definition" mit dem Untertitel "Ein Beitrag zur Frage des Naturschönen in der Musik" von Hans-Heinz Draeger, enthalten im Band X der Schriftenreihe "Musikalische Zeitfragen" mit dem Titel "Die Natur der Musik als Problem der Wissenschaft", Bärenreiter-Verlag, Kassel und Basel, 1962.)

Daß man geringfügige Abweichungen manchmal geradezu verlangt, zeigt sich etwa auch beim Spiel eines Violinvirtuosen, der in der tonalen Musik Leittonschritte aus ästhetischen Gründen oft kleiner als Halbtonschritte, ja vielleicht sogar kleiner als Vierteltonschritte ausführt, und doch hört das Publikum nicht etwa einen Vierteltonschritt, sondern eben einen zurechtgehörten, ja spannenden Halbtonschritt. Dieses Zurechthören von Halbtonschritten beweist aber, daß der Halbtonschritt die kleinste vom Ohr meßbare Intervalleineinheit darstellt (wenn man von der reinen Prim absieht), aus der sich die anderen Intervalle zusammensetzen. Was kleiner als ein Halbtonschritt ist, wird als falscher, verstimmter Halbtonschritt - aber eben als Halbtonschritt (!) - empfunden, und nicht etwa als Dritteltonschritt, Vierteltonschritt, Sechsteltonschritt etc.

Überblickt man das bisher Beschriebene und faßt es zusammen, dann ließen sich - neben anderen - folgende Fähigkeiten nennen, die der menschliche Gehörsinn von Natur aus alle mitbringt:

Bestimmte Intervalle werden als Konsonanzen empfunden.

Dank der Elastizität gibt es ein Zurechthören von ungenauen Intervallen; in diesem Fall tritt ein Bedürfnis nach Korrektur auf, was wieder die Vorstellungsfähigkeit einer Intervallnorm voraussetzt.

Ohne Korrekturbedürfnis werden geringfügige Abweichungen toleriert.

Aus ästhetischen Gründen können minimale Abweichungen von der Intervallnorm sogar gefordert werden.

Der Halbtonschritt ist die kleinste vom Ohr exakt meßbare Intervalleinheit, woraus folgt, daß etwa Werke der "Dreizehntonmusik", "Vierundzwanzigtonmusik" u.a. problematisch erscheinen.

Die Unterteilung der Oktav in zwölf gleich große Halbtonschritte im Sinne der gleichschwebenden temperierten Stimmung führt zu Tönen, die ausnahmslos nur solche Intervalle ermöglichen, welche von den entsprechenden Intervallnormen derart minimal abweichen, daß sie ohne Korrekturbedürfnis toleriert werden. Man vergesse in dem Zusammenhang nicht, daß diese Art von Toleranz eine in der menschlichen Natur verankerte Eigenschaft des Gehörssinnes ist, wo es belanglos ist, ob ein Intervall eine einfache oder eine komplizierte, eine rationale oder eine irrationale Proportion aufweist. Für den hörenden Menschen ist allein die Tatsache ausschlaggebend, daß alle Töne so erklingen, daß sie nach keiner Intonationskorrektur mehr verlangen; schließlich hat als einziges Maß der hörende Mensch zu gelten, für den ja die Musik bestimmt ist, und nicht ein Kontrollor, der die Verhältnisse rechnerisch nachprüft und vor lauter Tönen und Intervallen keine Musik bemerkt.

Hinsichtlich der angefochtenen Irrationalität bei temperierten Intervallen sei noch ein weiterer Gesichtspunkt kurz gestreift, der auf eine Analogie im Bereich des visuellen Empfindungsvermögens aufmerksam machen will:

Unser Gesichtssinn ist bekanntlich imstande, eine optisch klare Beziehung etwa zwischen einer Quadratdiagonale und einer Quadratseite oder etwa zwischen einer Kreislinie und einem Kreisdurchmesser wahrzunehmen,


obwohl die zahlenmäßige Erfassung der jeweiligen Bezeichnung zum Auftreten einer irrationalen bzw. transzendenten Zahl führt. Vielleicht vermag dieser Hinweis die Angst vor dem Auftreten eines irrationalen Verhältnisses zu zerstreuen.



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Weiterführende Informationen in Wort und Ton siehe:

Gegenüberstellung der 3 Wiener Zwölftonschulen
Panchromatische Überlegungen
Zwölftonmusik
Klangreihenmusik
Zur Einführung in die Klangreihenmusik
Klangreihenmusik: Musik mit neuer "Antriebskraft"
Klangreihenmusik (Gesamtüberblick)

Johann Sengstschmid
Johann Sengstschmid: Schriften und ausgewählte Aufsätze
Verzeichnis der Skriptumblätter

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